Monogrammiert, datiert und bezeichnet unten links (mit der Feder in Braun): MB [ligiert] / Frbg. 9.VIII.37.; verso datiert und bezeichnet (mit der Feder in Braun): 9.VIII.37. - abends 8 Uhr / Landes-Gefängnis Freiburg / Zelle 114; bezeichnet: Wer den, an sich schon ziemlich kümmerlichen, "Löwenmaul"- Stengel auf der Vorderseite deines / Blattes ansieht, wird den Eindruck haben, dass dieser Stengel mit den 3 völlig verblühten, formlosen [Seiten], / der 3 "Früchten" und der - rund - 7x5 = 35 "[?]blätter" höchst gewöhnlich, ja, vielleicht sogar außer- / ordentlich, ungewöhnlich sei, wie eben irgend ein erster bester, x-beliebiger Stengel - Falls er / sich eben überhaupt die Mühe und Zeit nimmt, etwas derartig durchschnittliches, gewöhnliches / auch nur einen Augenblick anzugucken. - Und er hat mit seinem Eindruck recht: es ist ein ganz gewöhn- / licher, kümmerlicher, obendrein ja unvollständiger Blütenstengel. - Und dann behaupte ich: / dass dieses so gewöhnlich Gebilde und noch dazu in diesem so dürftigen Exemplar, in Wirklichkeit- / und in schwachem Abglanz sogar auch in diser armseeligen, weder dehr intensiv und genau studierten / und beobachteten noch preacise, fein, konzentriert und künstlerisch-lebendig wiedergegebenen Zeichnung / _ _ _ an Erfindungs-Reichtum innerhalb der Variierung einer einigen - so einfachen! - Blatt- / form: ALLES ÜBERTRIFFT, WAS SELBST DER MENSCH MIT DER STÄRKSTEN PHANTASIE SICH JEMALS AUSDENKEN KÖNNTE! - und zwar denke ich dabei nun an die 35, zu je fünf / in vielen nicht ganz reinen [?] [?] Hauptblätter. Obgleich sie alle 35 die gleiche, / in Wirklichkeit mehr als auf der Zeichnung [?]-Nadeln ähnliche, unendlich einfache - Grundformen haben, sind nicht 2 von den 35 einander gleich oder auch nur wenig unterscheidbar: [?] jedes Blatt ist ein besonderes Individuum, mit seiner eigenen, mehr oder weniger eigenwilligen ausdrucksvollen, / immer aber höchst lebendigen Form, Richtung, [?], Windung. Auch die durch ihre Stellung je- / weils in ihren [?] und also auch zum "Beschauen" - einander entsprechender Blätter, / bei denen eine gewisse Ähnlichkeit ja allein schon durch das Anordnungs-Schema gegeben scheint, / sind in Wirklichkeit noch so verschieden von einander, daß beiden allermeistens nicht einmal / die einander entsprechenden ohne weiteres als [?] erkannt werden. Jedes Blatt ist so, wie es / sein muss und nicht anders sein kann, und diese Form-Bildung , die Gestaltung [?] / Resultat der Kräfte, die sie bewirken: der Kraft des organischen Wachsens in der Richtung auf eine / - nur zu [?] - [?]-Form zu - und der Reaktion äußerer Reize: Hemmungen, Förderungen, dauernde oder vorübergehende mechanische Licht-, etc. -Reize: Diese Gestaltung be- / kommt das als notwendig überzeugende aus dem Zusammenwirken dieser 2 Komponenten. Ja / also kein Mensch imstande ist: wieder in den Pflanzen [?] zustecken und so die Ideal- / Wachs-Richtung zu fühlen, - nach auch die jeweils "natürlichen" Reaktionen auf die vielen / möglichen äußeren Reize zu fühlen (wenn ich hier der wirklichen Pflanze, ein Blatt abreiße, ver- / stümmele oder dergleichen, d.h. "äußerer Reiz" spiele, - so bin ich ein Spiel-[?]- / straflos nur auf Grund der Gewalt! / so könnte zwar einen, vielleicht, zur Not, 35 verschiedene / Variationen der gleichen Blatt-Grundform sich ausdenken und zeichnen: aber nicht eines / einziges [?] gezeichneten Blätter, könnte er die Lebenskraft der Notwendigkeit einhauchen oder / mitgeben! Bestenfalls den Wiederschein einer im Gedächtnis aufbewahrten Formvorstellung aus der / Wirklichkeit geliehene Natur, - wie der Mond "Sonnenlich scheint". - Aber 35, - auch nur 15 - verschiedene Gestalten der gleichen einfachen Grundform erfinden: das kann kein Mensch! - / - Aber der Mensch kann ja manches an dem, sogar auch erfinden; aber Voraussetzung dafür, daß das von ihm / Erfundene auch nur eine Spur von Leben habe, ist die grenzenlose Demut, zu begreifen und anzuer- / kennen: daß seine erfundene Phantasie, und wenn er die [?] wäre, nur aus dem Nektar / der Wirklichkeit - Blume [?] Honig (Heil ihm, wenn es kein "Kunst-honig" ist!) herstellt - und daß er immer nur als Bettler voll Dankbarkeit die Phantasie-Brosämlein aufzupicken hat, / die von dem unendlichem, ewigem Erfindungs-Reichtum der Natur, d.h. des Schöpfers, für ihn / etwas abfallen...
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Verso unten links Stempel der Städtischen Galerie, Frankfurt am Main (Lugt 2371c), mit zugehöriger Inventarnummer