Über das Werk
Das kleine Blatt mit der Federzeichnung einer heiligen Barbara ist im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts und mit großer Wahrscheinlichkeit in Nürnberg entstanden. Damit zählt es zu den Beispielen aus der frühesten Zeit des Zeichnens auf Papier. Mit dem S-Schwung der zierlichen Figur, den voluminösen Schüsselfalten, dem reich fließenden Gewand, das unten in einer sockelartigen Standfläche abschließt, zeigt es sich als ein Werk des »internationalen Schönen Stils«, jener formelhaft stilisierten lieblichen Formgebung, die um 1400 in ganz Europa Verbreitung gefunden hat. Die heilige Barbara zählt zu den »Vierzehn Nothelfern« – Heiligen, die in allerlei Notlagen angerufen werden konnten – und wurde daher besonders verehrt.
Der Zeichner, der eine erkennbare Vorliebe für eine kunstvoll ondulierende, kalligraphische Linienführung besaß, hat die Figur der Heiligen mit einem festen Kontur umgeben und die Gewandfalten mit parallel geführten Federstrichen plastisch herausgearbeitet. Dennoch bleibt die Gestalt flächenbezogen, ihr Körper tritt weder als Volumen noch als ausbalancierter Organismus in Erscheinung; den schweren Turm, das Attribut, an dem die Heilige zu erkennen ist und das hier austauschbar wirkt, müsste sie eigentlich auf der anderen, der herausgeschobenen Hüfte tragen. Unstimmigkeiten wie die hinter der linken Hand »schwebende« Märtyrerpalme und auch die fast scherenschnittartige Isolierung der Figur deuten darauf hin, dass dieses flüssig gezeichnete Werk als Kopie – vielleicht nach einem Gemälde – entstanden ist. Zu den wichtigsten frühen Funktionen von Zeichnung gehört der »Transport« von Formen und ihr Aufbewahren im Vorlagenvorrat einer spätmittelalterlichen Künstlerwerkstatt.