Über das Werk
Dieses »Nachtstück« zeichnete der Franzose Jean-François Millet in Barbizon in der zweiten Hälfe der 1850er Jahre. 1849 war der Künstler mit seiner Familie von Paris in das kleine Dorf am Rande des Waldes von Fontainebleau gezogen, das er bis zu seinem Tod für nur wenige Reisen verließ. Im Kreise der Künstlerkolonie von Barbizon beschäftigte er sich mit der Landschaft der Region und mit jenen Darstellungen des bäuerlichen Lebens, die ihn schon früh bis zur amerikanischen Ostküste bekannt machen sollten.
Um die »Nächtliche Szene im Wald« zu durchdringen, scheinen sich die Augen des Betrachters an die Dunkelheit erst nach und nach gewöhnen zu müssen. Im fahlen Licht eines tief stehenden Mondes, das durch die eng gewachsenen, schlanken Stämme hoher, kahler Bäume fällt, ist auf einer Waldlichtung im äußersten Vordergrund schemenhaft eine Gruppe dreier Menschen auszumachen. Offenbar sind sie damit beschäftigt, einen am Boden liegenden, leblos wirkenden Körper seiner Kleider zu entledigen. In seiner Haltung gleicht dieser dem Opfer eines Kampfes in einer 1851 zu datierenden Illustration Millets zu den Romanen J. F. Coopers (Museum der Bildenden Künste, Budapest). Ansonsten jedoch bietet jene Zeichnung keine Klarheit schaffenden Anhaltspunkte. Mysteriös bleibt das nächtliche Geschehen an einem Ort, dessen unheimliche Atmosphäre durch die dichte Struktur und den virtuosen Umgang mit der nuancierten Tonskala schwarzer Kreide äußerste Ausdruckskraft erhält.
Eine Erklärung für den Sinngehalt der Zeichnung bietet die Annahme, dass sie zu einem schließlich nicht umgesetzten Projekt einer Illustration der Fabeln von Jean de la Fontaine (1621–1695) gehörte. Millet hatte dieses Vorhaben gemeinsam mit Th. Rousseau, J. Dupré und N. Diaz aus Barbizon und den Künstlerfreunden A.-L. Barye und H. Daumier in Angriff genommen. Die beiden für Millet vorgesehenen Fabeln, »La Mort et le Bûcheron« (»Der Tod und der Holzfäller«) und »La Fôret et le Bûcheron« (»Der Wald und der Holzfäller«), könnten beide im engeren Zusammenhang mit der rätselhaften Szene stehen. Eine spätere Zeichnung im Louvre, die ein Gemälde Millets zur Begegnung des Holzfällers mit dem Tod (1858/59, Ny Carlsberg Glyptothek, Kopenhagen) vorbereitet, stellt eine Mordszene dar, die in der gemalten Komposition nicht wiederkehrt, gedanklich aber auf die Zeichnung im Städel zurückweist.
Unter den mit schwarzer Kreide gezeichneten Werken Millets, die das durchscheinende Weiß des Büttenpapiers als inszenierendes Licht gestaltend zur Wirkung bringen, ist dieses eines jener vorbildhaften Beispiele, in denen sich die Faszination der späteren Zeichnungen Georges Seurats ankündigt.