Über das Werk
Der französische Zeichner und Kupferstecher Claude Mellan kehrte 1636 von einem zwölfjährigen Aufenthalt in Rom nach Paris zurück. In Italien hatte er unter anderem seinen sensiblen und virtuosen Stil als Porträtzeichner ausgebildet; seine in schwarzer Kreide ausgeführten Bildnisse dienten ihm dort als Vorlagen für Kupferstiche. An deren Erfolg knüpfte er in Paris an und wurde bald zum Porträtisten der höheren Gesellschaft, die es zu schätzen begonnen hatte, persönliche Bildnisse in elegant gearbeiteten Kupferstichen zu besitzen und zu verbreiten.
Das »Porträt einer Dame« allerdings ist, soweit wir wissen, nicht gestochen worden, und aus diesem Grund ist die Dargestellte, die Mellan, dem Stil nach zu schließen, bald nach seiner Rückkehr aus Rom gezeichnet hat, bis heute nicht identifiziert. Einen Anhaltspunkt gibt lediglich die Provenienz. Im 18. Jahrhundert gehörte die Zeichnung dem Kunsthändler und bedeutenden Sammler Pierre Jean Mariette, in dessen blauem, mit Goldrahmung und Namenskartusche versehenen Passepartout sie noch heute liegt. In der Versteigerung der Sammlung Mariette im Jahr 1775, aus der Johann Friedrich Städel etliche Zeichnungen erwarb, wurde das Blatt mit einem männlichen Bildnis unter einer gemeinsamen Nummer angeboten. Das männliche Bildnis (heute in der Sammlung des Louvre) ist mit dem Namen Pierre Dupré gekennzeichnet; so mag es sich bei unserer Dame um die Gattin dieses Herrn handeln, über beide sind allerdings keine weiteren Einzelheiten bekannt.
Mellan verwendete hier zusätzlich zu der bei ihm üblichen schwarzen eine rote Kreide, wodurch das Bildnis besonders lebendig erscheint. Die Technik könnte vielleicht bedeuten, dass dieses Blatt gar nicht zur Reproduktion, sondern als eigenständiges Kunstwerk angefertigt worden ist. Das würde bei den Auftraggebern einen bemerkenswerten Geschmack für eine offene, andeutende Struktur bedeuten, denn die Zeichnung konzentriert sich ganz auf die selbstbewussten Gesichtszüge der jungen Frau und belässt es in Frisur und Büste bei sparsamen feinen Kreidestrichen. Der kluge Akzent des schwarzen Pompon auf der Brust gibt dem Bildnis Halt und stellt zugleich einen lebhaften Bezug zu dem aufmerksamen, wachen Blick der Dame her.
Über die Erwerbung
Im März 1815 vermachte der Frankfurter Kaufmann und Bankier Johann Friedrich Städel sein gesamtes Vermögen und seine Kunstsammlung der nach ihm zu benennenden Stiftung „Städelsches Kunstinstitut“. Den Bürgern der Stadt widmete er seine Stiftung jedoch ideell: Es möge die Frankfurter Bürgerschaft „zieren und ihr nützlich werden“. Auf diese Weise begründete er als erste Bürger im deutschsprachigen Raum ein öffentliches Kunstmuseum – unser heutiges Städel Museum. Seine Sammlung umfasste bei seinem Tod 476 Gemälde, rund 4.600 Zeichnungen, knapp 10.000 Druckgrafiken und wertvolle Bücher.