Über das Werk
Das von Hans Holbein d. J. geschaffene große Blatt eines Dreimasters, der mit geblähten Segeln durch die Wogen gleitet, gehört zu den ungewöhnlichen Zeichnungen dieses Künstlers. Bekannt sind von ihm in diesem Medium vor allem die eleganten Porträtstudien in verschiedenfarbigen Kreiden, mit denen er seine berühmten Bildnisgemälde, vor allem von Angehörigen des englischen Hofes, vorbereitete. Das »Schiff« scheint eine Werkzeichnung gewesen zu sein, die für ein Gemälde angefertigt und im weiteren Verlauf der Arbeit nicht eben pfleglich behandelt worden ist. Es wurde links und rechts oben rüde beschnitten, eingerissen und mehrfach geknickt. Doch schon recht bald nachdem es seine Rolle im Werkprozess gespielt hatte, verwandte man einige Mühe darauf, das Blatt zu erhalten. Es wurde auf ein Trägerpapier aufgezogen, und einige verloren gegangene Einzelheiten wurden sorgsam ergänzt.
Holbeins Schiff ist bevölkert von einer Schar von Landsknechten und Matrosen, die sich einem ausschweifenden Treiben hingeben. Allenthalben werden Weinkrüge gehoben und geleert, einer der Trinker muss sich bereits übergeben, ein anderer hält eine barbusige Marketenderin in seinen Armen. Nirgendwo ist ein Kommandeur oder ein Steuermann zu sehen. Eine solche Schiffsdarstellung steht in der Tradition des »Narrenschiffs«. Unter diesem Titel erschien am Ende des 15. Jahrhunderts ein außerordentlich erfolgreiches Buch, das das vielfältige närrische Verhalten der Menschen geißelte. Als Sinnbild diente ihm ein mit Narren vollgepacktes Schiff auf der Reise nach »Narragonien«. An anderer Stelle bringen solche Schiffe die Leichtlebigen ins Schlaraffenland. Jedenfalls dürfte Holbeins Zeichnung, die mit festem Federkontur und wirkungsvoll modellierender Pinsellavierung in verschiedenen Farben ausgeführt ist, auf eine solche Symbolik des falschen Lebenswandels anspielen.
Anlässlich der Feierlichkeiten nach der Hochzeit Heinrichs VIII. mit Anne Boleyn 1533 schuf Holbein für die Gildenhalle der Hansekaufleute in London heute nicht mehr erhaltene Wandbilder zu den Themen Reichtum und Armut. Wahrscheinlich gehörte die Schiffsdarstellung in diesen Zusammenhang; möglicherweise war ihr ein Pendant gegenübergestellt, das ein geordnetes und ehrbares Schiffsregiment zeigte.