Über das Werk
Einer einzigen Tasse, ihrem Unterteller und einem Löffel, allein diesen drei Gegenständen und der Interpretation ihres gegenseitigen räumlichen Verhältnisses galt in dieser Zeichnung die Aufmerksamkeit des jungen Pablo Picasso. »Die Tasse« gehört in den Zusammenhang einer Gruppe von Zeichnungen und Aquarellen der Jahre 1908/09, in denen sich der Künstler motivisch mit Gefäßen und Stillleben beschäftigte. Es ist die Zeit, in der Picasso mit seinem Gemälde der »Demoiselles d’Avignon« (1907, The Museum of Modern Art, New York) sein Frühwerk hinter sich gelassen hatte und die Grundlagen des Kubismus entwickelte.
Das Umfeld dieser Tasse ist in keiner Weise beschrieben. Dennoch steht sie fest auf einer Ebene, was durch den sichtbaren, waagerecht zur Bildfläche ausgerichteten und Halt gebenden Boden der Untertasse optisch vermittelt wird. Zugleich ist diese tiefe Untertasse jedoch, ebenso wie die bauchige Tasse, in Aufsicht gegeben. Letztere ist wie ihr Henkel aber auch von der Seite zu sehen, und ebenfalls von unten, wo der Schaft des Fußes die Tasse trägt. Der aufrechte Löffel schließlich, der fast ganz erfasst ist, ragt am unterbrochenen Kontur des Tassenrandes hoch hinaus und scheint in seinem halbkugelrunden Behältnis ein instabiles Eigenleben zu führen.
Picasso zeichnete die Konturen der Tasse mit kurzen, überwiegend gerundeten, schnell gesetzten Kreidestrichen, die sich wiederholen und überlagern. Die ausgeführten Schattenzonen lassen dynamische Spiegelungen entstehen, entsprechen jedoch keiner einheitlichen Lichtquelle. Ohne die Stofflichkeit des Gegenstandes zu beachten, erfasste der Künstler im Prozess des Zeichnens die Gestalt der Tasse. Zugleich gab er ihr durch die von perspektivischen Regeln abweichende Mehransichtigkeit ein gesteigertes Volumen, das sie den Raum förmlich autonom erobern lässt. Diese irritierende und neuartige Auffassung des Gegenstandes beruht auf der Auseinandersetzung des Künstlers mit der Kunst Cézannes, dessen umfassende Retrospektive, ein Jahr nach dem Tod des Künstlers, er 1907 in Paris gesehen hatte. Auf der Grundlage der Forderung Cézannes, den Bildgegenstand auf geometrische Grundformen zurückzuführen, entwickelten Picasso und Georges Braque 1908/09 die Gestaltungsprinzipien des Kubismus. Radikal brachen sie Gegenstände und Bildräume auf, zergliederten und facettierten sie.
Unter den über zwanzigtausend Zeichnungen Picassos, die das Werkverzeichnis aufführt, ist die »Tasse« ein prägnantes Zeugnis des beginnenden analytischen Kubismus am Beispiel eines monumentalisierend in Szene gesetzten Alltagsgegenstandes.