Über das Werk
Mit den für ihn typischen, weichen zeichnerischen Mitteln lässt Pierre Paul Prud’hon Minerva, die Verkörperung der Weisheit, gemeinsam mit der »nackten« Wahrheit im diffusen Licht einer Morgendämmerung in der grenzenlosen Weite des Himmels schweben. Schemenhaft entfliehen Irrtum und Frevel in die Dunkelheit. Tief unter diesen allegorischen Figuren ist die Erdkugel auszumachen, auf der in großen Lettern das Wort »FRANCE« nur schwer zu erkennen ist.
Ein Vorbild für das ikonographisch selten gemeinsam auftretende Paar findet sich in einem Stich von L. Desplaces nach A. Coypel aus dem Jahr 1715. Minerva hat hier Irrtum und Dummheit vertrieben, so dass sich die Wahrheit den Menschen offenbaren kann. Orientierung für seinen zeichnerischen Stil bot Prud’hon die Sfumato-Malerei von Leonardo und Correggio, deren Werke er in Paris und auch in Italien, während seines vierjährigen Rom-Stipendiums (1784–1788), sehen konnte. Mit schwarzer und weißer Kreide zeichnet der Künstler auf blau getöntes Büttenpapier, das der Stimmung der Dämmerung entspricht. Um den Figuren Volumen zu geben, setzt er nur wenige Linien ein und arbeitet stattdessen mit flächig gewischten Effekten.
Als exemplarisches Beispiel für die französische Kunst der Jahrhundertwende spiegelt Prud’hons Zeichnung die geistige und politische Übergangssituation der Jahre zwischen Revolution und Kaiserreich wieder. Um einer ideologischen Aussage, der Hoffnung auf die neue Republik, in einem sinnlich nachvollziehbaren Bild glaubhaften Ausdruck zu geben, wählte Prud’hon ein klassisches Thema, dem durch eine attraktive, adaptierte Gestaltung große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Mit dieser suggestiven Bildsprache behauptet sich »La Sagesse et la Vérité« als Gegenposition zu der strengen, neoklassizistischen Doktrin der Historienmalerei eines J.-L. David und als ein Vorbote der französischen Romantik.
Die Zeichnung »La Sagesse et la Vérité« wurde 1795 ausgezeichnet und Prud’hon erhielt den Auftrag, ein entsprechend dekoratives Deckengemälde auszuführen. Die nur leicht abgewandelte und um ein Zehnfaches größere Komposition befindet sich heute in der Sammlung des Musée du Louvre.