Über das Werk
Odilon Redon beschäftigte sich mit dem mythologischen Stoff des Orpheus, der zu seiner Zeit äußerst populär war, auf unterschiedlichste Weise. Mit seiner Bleistiftzeichnung ist es dem Künstler gelungen, dem Thema der Verzweiflung des apollinischen Sängers über den endgültigen Verlust seiner geliebten Gefährtin Eurydike eine ebenso seltene wie eindrucksvolle Interpretation zu geben.
Orpheus hat seine Kithara am Boden abgestellt und steht wie erstarrt rücklings gegen einen Baum gelehnt. Seine verschränkt erhobenen Arme, die als Geste der Verzagtheit gelesen werden können, sind zugleich Ausdruck einer Schutz suchenden Abwehr gegen ein mysteriöses Geschehen. Ein schleichender Wind, durch leichte horizontale Linien und das Fallen weniger Blätter angedeutet, erfüllt die Atmosphäre. Mit geheimnisvoller Kraft hat er das Gewand des Orpheus erfasst und zu einer felsenartigen Formation erstarren lassen. Mit Erfahrung nutzt Redon hier die sinnlichen Qualitäten des Bleistifts, nicht allein, um den spannungsreichen Kontrast von flüchtiger Zartheit und bewegungsloser Versteinerung zu schildern. Das zum Körper hin verdichtete Zentrum des Umhangs suggeriert darüber hinaus den drohenden Verwandlungsprozess der ganzen Gestalt. Der Aussichtslosigkeit der dramatischen Situation entsprechen die weit aufgerissenen, zu tiefem Schwarz verdunkelten Augen des Verlassenen.
Auf die Idee zu diesem gestalterischen Äquivalent für den tiefen Schmerz des Orpheus dürfte Redon bei der Lektüre jener Verse in den Metamorphosen Ovids gekommen sein, in denen der Schrecken über den Tod Eurydikes den Sänger erst verließ, als sein Wesen sich wandelte und sein Körper zu Stein geworden war. Während das literarische Vorbild den Zeichner zu Form und Gestaltung angeregt haben mag, gibt es eine weitere dramatische Entsprechung, auf die der Künstler den Betrachter direkt aufmerksam macht.
Vereinzelte Felsbrocken im Vordergrund führen den Blick zu einer kurzen Taktfolge mit den Worten »J’ai perdu mon Eurydice. Rien …« (»Ach, ich habe sie verloren …«). Es ist der Beginn der Klage des Orpheus aus Ch. W. Glucks Oper »Orphée et Eurydice«. Eindrucksvoll gelang es Redon, den Musik seit seiner Jugend begleitete, ein zeichnerisches Äquivalent zur intensiven Emotionalität dieser Arie zu gestalten.
Für Odilon Redon blieb die Zeichnung mit dem Bleistift, neben der Kohlezeichnung, der Lithographie, dem Pastell und der Malerei, lebenslang von nicht nachlassender Bedeutung. Sie erlaubt ihm, phantastische Bildwelten ohne materielle Beschreibung zu modellieren, erweckt dennoch den Eindruck organisch gewachsener Formen und lässt dabei die Orientierung des Künstlers an der sichtbaren Wirklichkeit niemals vergessen.