Über das Werk
In der Dürerzeit blühte in Deutschland die Kunst der »Helldunkel«-Zeichnung. Bei dieser Technik wird ein farbig getöntes Papier als »Mittelton« verwendet, von dem aus sich sowohl hell als auch dunkel gezeichnete Partien abheben. Dadurch entsteht ein besonderer, lichthaltiger Effekt, der plastisch, stofflich oder räumlich wirken kann. Hans Baldung, genannt Grien, der als junger Mann in Dürers Werkstatt gelernt hatte und dann der bestimmende Maler am Oberrhein in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde, war ein Meister dieses Verfahrens.
Das Schicksal der Lucretia ist dem Werk des Livius zur römischen Geschichte entnommen. Die Patriziertochter wurde von einem Verwandten vergewaltigt; um die eigene Ehre und die ihrer Familie wieder herzustellen, erstach sie sich vor den Augen ihres Gatten und ihres Vaters. In der Renaissance, in der die Lektüre der antiken Autoren zur gehobenen Bildung zählte, wurde das Beispiel der Lucretia zu einem beliebten Sinnbild für Keuschheit und eheliche Treue, wobei es sicherlich eine Rolle spielte, dass sich hier auch ein reizvoller erotischer Aspekt bot.
Baldung zeigt Lucretia als ganze Figur und frontal. Mit der Rechten sticht sie sich den Dolch unterhalb des Busens in den Körper, mit der Linken öffnet sie ihr Gewand und entblößt den entehrten Körper. Diesen hat der Künstler mit großer sinnlicher Raffinesse gestaltet; die dunklen und hellen zeichnerischen Partien lassen ihn jung und schimmernd erscheinen, ein Eindruck, der durch die virtuos geschaffene Raumwirkung zwischen Beinen und Gewand noch gesteigert wird. Indem der elegante Stand der Beine durch die Bewegung von Kopf und linkem Arm bereits leicht aus der Balance kommt, werden Darbietung und Entziehung des Körpers zugleich angedeutet. Eine meisterliche Helldunkelzeichnung dieser Art ist mit großer Wahrscheinlichkeit als autonomes Kunstwerk für ein gebildetes und kunstinteressiertes städtisches Publikum entstanden.