Über das Werk
Das Städel Museum besitzt eine kleine, aber bedeutende Gruppe von Zeichnungen Antoine Watteaus. Dieses unmittelbare, sensible Medium spielte für den Maler der »Galanten Feste«, der aufmerksamen Begegnungen und feinsinnigen Empfindungen, eine besonders wichtige Rolle. Die von Watteau bevorzugte zeichnerische Technik war die Kreide, schwarze, vor allem aber Rötel-Kreide, die sowohl Linien als auch Flächen bilden, kräftige Akzente ebenso wie zarte Passagen erzeugen kann und im Zusammenspiel mit dem Papierton eine Gemälden ähnliche Wirkung hervorbringt. Für all das ist die »Stehende männliche Figur« von etwa 1718–19 ein meisterhaftes Beispiel.
Der Mann, der an einem nicht gezeigten Gegenstand lehnt, trägt ein altertümliches, federgeschmücktes Barett und über der rechten Schulter einen drapierten, dunkle Falten werfenden Mantel. Dessen schwere Formen heben im Kontrast die Feinheit des leicht geneigten Gesichtes und der nervösen Hand hervor. Die Zeichnung ist eine Modellstudie, und die gleiche Figur findet sich in dem Gemälde »Les Charmes de la Vie« (»Die Freuden des Lebens«) in der Wallace Collection in London. Sie lauscht dort, aufgestützt auf eine Stuhllehne, der Musik. Die Ähnlichkeit von Studie und Ausführung lässt vermuten, dass die Zeichnung unmittelbar für diesen Zweck entstanden ist und Watteau mit dem sinnenden, träumerischen Gesichtsausdruck das Erlebnis des Hörens zu erfassen suchte. Durch das Interesse am Gesichtsausdruck wird die Studie zugleich zu einem Bildnis. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es sich bei dem stehenden, lauschenden Herrn um den Maler Nicolas Vleughels (1668–1737) handelt, der später Direktor der Académie de France in Rom werden sollte. Er war mit Watteau befreundet und wohnte um 1718–19 mit diesem unter derselben Adresse in Paris. Dort wird die Studie, die zugleich ein persönliches, charakterisierendes Porträt sein mag, entstanden sein.