Bedeutung und Persönlichkeit des größten französischen Malers des 17. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang zu beschreiben verlangt Beschränkung auf wenige Punkte: Mag vor allem die Tatsache erstaunen, dass sich das Leben Poussins, von Jahren der ersten Ausbildung in Paris (1611-1624) und einem zweiten Aufenthalt dort (1640-1642) abgesehen, in Rom abgespielt hat. Ein Hinweis auf die bäuerliche Herkunft aus der Normandie kann u. a. die Stabilität und Unbeirrbarkeit erklären, die er während seines Lebens immer wieder bewiesen hat. Für die Frühzeit ist vor allem die Bekanntschaft mit Marino, dem italienischen Dichter am Pariser Hof, zu erwähnen. Poussin verdankte ihm die erste Begegnung mit klassischer Literatur, den Auftrag, Ovids Metamorphosen zu illustrieren, und dann die ersten Förderer seiner Anfänge in Rom.
Poussins breit angelegte Begabung erweist sich in der Vielfalt der Anregungen, die er aufnahm und zu einem individuellen Stil entwickelte. Er gelangte zu ihm durch die Überwindung manieristischer Formeln, eine intensive Auseinandersetzung mit dem venezianischen Kolorit des 16. Jahrhunderts – Tizian, Veronese – und eine dauerhafte Neigung zu den in Rom wirkenden Bolognesen, vor allem Domenichino. Sich immer wieder auf das Vorbild Raphaels und seiner Schule beziehend, ist Poussins Kunst zunehmend von gedanklichen Vorstellungen geprägt. Sie verwandelt Körper in ideale Gestalten, physische Aktion in Gestik, Umgebungen in konstruierte Räume. Was die Inhalte betrifft, wandte sich Poussin zunehmend Themen alter Geschichte und christlicher Religion zu, wobei er bei letzterer die heilige Handlung als veranschaulichte Theologie deutete, z. B. die beiden Folgen der Sieben Sakramente. In vergleichbarem Sinn behandelte Poussin seit etwa 1650 das Thema der Landschaft als eine geistige Vorstellung, die Natur und Mythologie als Einheit betrachtet. Poussins Sammler und Mäzene waren vorwiegend italienische und französische Privatleute: Gelehrte, hohe Beamte, Bankiers wie z. B. Cassiano del Pozzo oder Fréart de Chantelou, die seine Bilder nicht zum Zweck der Repräsentation, sondern als Ausdruck einer moralischen Haltung betrachteten, der sie sich selbst verpflichtet fühlten. Dieser Privatheit entsprach auch das meist mittelgroße Format der Gemälde Poussins, der deshalb in Rom keine große Werkstatt führte, sondern nur Gefährten und Freunde aufnahm wie z.B. seinen Schwager Gaspard Dughet.
Poussins zeichnerisches Werk ist weitgehend von der Tatsache bestimmt, dass er seine Gemälde in einer für seine Zeit ungewöhnlichen Weise komponierte. Er veränderte nämlich die damals übliche Reihenfolge von Entwurf und Einzelstudie zu Karton und Bild dahingehend, dass er nach dem Entwurf mit plastischen Figuren und einer Kastenbühne mit veränderlicher Beleuchtung weiterarbeitete und das so gefundene Ergebnis direkt in Malerei übertrug. Von Landschaften abgesehen, finden sich daher unter Poussins Zeichnungen hauptsächlich Gesamtentwürfe szenischen Charakters, die ein Thema häufig mehrfach paraphrasieren. Poussin arbeitet vorwiegend mit der lavierten Federzeichnung oder ausschließlich mit dem Pinsel, wobei die entstehenden Licht- und Schattenwirkungen nicht die Oberfläche beschrieben, sondern auf die Gesamtstruktur hin angelegt sind, indem sie vor allem die gestisch verstandenen Bewegungsabläufe akzentuieren. Dieser mittelbare, reflektierte Umgang mit der optischen Wahrnehmung bedingt den konzeptionellen Charakter, die abstrakte Qualität dieser Blätter.
Wir verdanken heute W. Friedlaender, A. Blunt und K. Badt die umfassende Katalogisierung und Interpretation der Zeichnungen Poussins. Weil jedoch seine Kunst in allgemeinem Sinn zum Vorbild der folgenden Generationen wurde und sich dadurch in der Überlieferung eine Trennung zwischen theoretischen Idealen, gestalterischem Stil und authentischem Werk vollzog, gibt es trotzdem immer noch viele problematische Fälle und Zuschreibungen.